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Lernend auf dem Weg zur Selbstverwirklichung

  • Sigrid Leo
  • 23. Mai 2022
  • 5 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 17. Juli 2022

Pädagogik des Seins


Am Ende seines Lebens wird der Mensch nicht an dem gemessen, was er getan oder gelassen hat. Sondern daran, ob er ganz er selbst geworden ist.


Der amerikanische Psychotherapeut Abraham A. Maslow, der als Wegbereiter für die Erforschung des Potenzials menschlicher Größe gilt, hat sich in seinem Buch Die Psychologie des Seins. Ein Entwurf mit der Psychologie der Selbstverwirklichung des Menschen befasst. Er fand heraus, dass auf einer hierarchisch angeordneten Skala von Werten der der Selbstverwirklichung an höchster Stelle steht, und er beschreibt die psychologischen Grundbedürfnisse, die erfüllt sein müssen, bevor ein Mensch

wachstumsorientiert sich selbst zu verwirklichen in der Lage ist. Außerdem hat er in seinem Buch jene Gesetzmäßigkeiten skizziert, nach denen sich Menschen ein selbstverwirklichtes Leben geschaffen haben.


Meine Pädagogik des Seins ist in Anlehnung an die Maslow’sche Psychologie entstanden. Allerdings stelle ich nicht die traditionelle Pädagogik der des Seins diametral gegenüber, sondern ergänze die traditionelle Pädagogik um die Pädagogik des Seins. Denn nach meiner Einsicht beruht die herkömmliche Pädagogik eher auf den Funktionen der linken Gehirnhälfte und die Pädagogik des Seins zunächst auf denen der rechten. Wie wir aber schon in dem Kapitel Wie aus der Angst Lernstörungen entstehen können gesehen haben, impliziert Lernen immer auch beide Formen des Lernens: das Struktur gebende, eher mechanische, logisch-analytische Denken sowie das ganzheitliche, intuitive Erfassen der Lerninhalte. Im Mittelpunkt von Methodik und Didaktik stehen immer die Entdeckung und die Entfaltung des menschlichen Selbst im Sein.


Darum muss die Antwort auf die Frage »Warum lernt der Mensch?« heißen: Um zu wachsen und zur vollen Entfaltung seines Selbst zu gelangen. In der herkömmlichen Pädagogik hieß die Antwort (etwas verkürzt formuliert): Um Wissen anzusammeln.

Sie sollte dagegen lauten: Um logisches Denken zu lernen und um die Fähigkeit zur Abstraktion zu erlangen.


Die Antwort auf die Frage, wie ein Mensch lernt, lautet in der Pädagogik des Seins: intrapersonal, d.h. von innen heraus, nach inneren Vorgaben und Bedürfnissen (hier könnte die Anwendung des Computers im Unterricht hervorragende Bedeutung gewinnen). In der traditionellen Pädagogik lautet die Antwort dagegen: interpersonal,

d.h. von Lehrer zu Schüler nach Vorgabe der jeweiligen Lehrpläne.


Unter diesem Gesichtspunkt wird in der Pädagogik des Seins das Leben (das Lernen) nicht als etwas angesehen, das der Mensch passiv zu ertragen, zu erdulden und zu erleiden hat und das schicksalsmäßig »gelebt oder abgehakt« werden muss.


Lernen wird als eine schöpferische Aufgabe, als eine Herausforderung und als Verantwortung, als permanenter Wachstums- und Lernprozess betrachtet. Hier ist Lernen etwas ewig Dynamisches und nichts Statisches.


Insofern ist in der Pädagogik des Seins die Lehre von den fortgesetzten Wachstumsphasen des Erkennens, der Inangriffnahme und des Abschlusses von neu zu lernenden Inhalten unverzichtbarer Bestandteil. Nach ihr ist der Mensch zu allen Zeiten des Lebens ein Lernender und ein sich Wandelnder. Darum könnte die Pädagogik des Seins auch Pädagogik


  • des Werdens

  • des Selbst

  • des Wachstums

  • der Liebe

  • der rechten und der linken Gehirnhälfte

  • der Entwicklung der Persönlichkeit heißen.


Ich unterscheide in der Pädagogik des Seins zwei pädagogische Bereiche


1. Im Hinblick auf die Erziehung des Kindes, in der es in erster Linie um den Erhalt der kindlichen Kreativität und der vorhandenen wachstums- und entwicklungsorientierten Dynamik geht. In der es ferner um die Ausbildung der kindlichen Persönlichkeit geht, z.B. auf der Grundlage des Phasenmodells von Erik H. Erikson, also des Erwerbs und des Trainings der physischen Modalitäten

  • Urvertrauen

  • Autonomie

  • Initiative

  • Selbstvertrauen

  • Identität

Und zwar im Einklang mit den körperlichen Vorgängen und dem Entwicklungsgeschehen des Kindes.


2. Im Hinblick auf die Nacherziehung des Erwachsenen, deren

Anliegen meist darin besteht, die verschütteten oder, wie Arno Gruen in seinem Buch Der Verrat am Selbst es nennt, die »verratenen« Anteile des Selbst und der Kreativität wieder zu entdecken, sie auszubilden und zur vollen Entfaltung in Harmonie mit der eigenen Persönlichkeit und der Umwelt zu bringen. Darum müssen, ebenso wie in der kindlichen Pädagogik, die Stärkung der Persönlichkeit und die psychischen Modalitäten ein zentraler Lerninhalt sein. Hier aber nicht mehr in Verbindung mit den körperlichen Wachstumsphasen, sondern als Nacherziehung durch Bewusstmachung und Wiederbelebung der kindlichen Situation. Dies führt dann zu einer Auflösung von verdrängten Seeleninhalten, wodurch Unbewusstes und Angstauslösendes durch Bewusstmachung aufgelöst und die Seele von Verunreinigungen gesäubert und geheilt wird.


Um hier von einem interpersonalen zu einem intrapersonalen Lernen gelangen zu können, muss der Erwachsene zunächst einmal die eigenen Freuden wieder erkennen, er muss auf dem Weg zu mehr Kreativität seiner Lust wie einem Kompass folgen (vgl. auch Alexander Lowen Lust, der Weg zu kreativem Leben). Während der Auflösung von Konflikten und Traumata innerhalb des Nacherziehungsprozesses wird sich der Erwachsene bewusst darüber, dass die ehemals kindliche Abhängigkeit und die Angst vor Verlust – aus der heraus die eigenen kindlichen Bedürfnisse

zugunsten der Forderungen der Umwelt geleugnet worden sind – heute nicht mehr in der gleichen Weise wichtig sind wie früher.


Er ist heute ein selbstständig handelndes Wesen, das bedürfnisbefriedigend

aus sich selbst heraus zu leben im Stande ist.

Dass diese Pädagogik des Seins erhöhte Anforderungen an Erzieher, Lehrer und Therapeuten stellt, versteht sich von allein. Sie fungieren in der Pädagogik des Seins nicht nur als Wissensvermittler, sondern als Wegbegleiter, die ebenso wie der Schüler (ob Kind oder Erwachsener) an einem Wachstumsprozess teilhaben, nur dass sie erfahrener sind. Sie sind im Wesentlichen Mentor und Vorbild.


Folgende Bedingungen muss ein Pädagoge des Seins erfüllen:

  • Beherrschung von Lenkung und Hinführung zum intrapersonalen Lernen

  • Wissen um Anwendung von Techniken zur Stärkung der intrinsischen Motivation

  • gezielte Anwendung von extrinsischer Motivation zur Überwindung von Verhaltensblockaden beherrschen

  • Erkennen und Ausbilden von individuellen Anlagen

  • wachstumsorientiert erziehen, d.h. die Grundbedürfnisse nach Sicherheit, Zugehörigkeit, Liebe und Achtung befriedigen können, damit der Schüler lernwillig und neugierig bleibt

  • dem Schüler wachstumsorientierte Anreize geben und ihm Regression (ängstliches Zurückgehen auf frühere Entwicklungsstufen, Krankheit, Lernverweigerung) weniger attraktiv erscheinen lassen

  • in Wechselseitigkeit Urvertrauen, Autonomie, Initiative, Selbstvertrauen und Identität beim Schüler ausbilden

  • Autonomie besitzen und in der Lage sein, sich selbst zu erziehen

  • im gegenwärtigen Moment angemessen auf Anforderungen und Herausforderungen reagieren können

  • erfahren sein: im Erwecken und Lenken der Kreativität

  • zum Aufbau von persönlichen Zielen anleiten können

  • Techniken zur Stärkung der Persönlichkeit vermitteln können

  • Widerstände abbauen können

  • Willenskräfte stärken können

  • Wissen um die Gesetzmäßigkeiten des Lernens sowie Hinführung zur Fähigkeit des logisch-abstrakten Denkens besitzen

  • Konzentrationstechniken kennen und vermitteln können

  • geduldig sein und Achtung und Verantwortung dem Leben gegenüber haben (ethische Voraussetzung)

  • absolutes Vertrauen in das Leben und in die ihm zugrunde liegenden heilenden und fördernden Kräfte haben

  • humorvoller, freundlicher, vertrauensvoller Umgang mit dem Schüler

  • tolerant sein

  • das Streben nach Sicherheit aufgeben und das Leben genießen können.


Um es noch einmal kurz zusammenfassend zu sagen: Erzieher, Lehrer und Therapeuten müssen sich in der Pädagogik des Seins selbst als lernende, wandelnde und wachsende Menschen begreifen und erfahren und damit dem Schüler Anreize zum Wachstum geben können. Gleichzeitig sollten sie als starke Persönlichkeiten

sich selbst und dem Schüler Halt, Sicherheit und Struktur innerhalb schwieriger Wachstumsprozesse zu geben im Stande sein. Das erfordert eine permanente Arbeit an sich selbst (nicht an Anderen!) und führt zu einem vitalen, schöpferischen und sinnerfüllten Leben.


Gelingt die Pädagogik des Seins, kann der Mensch sein volles Potenzial ausschöpfen und zu seiner eigenen gelebten menschlichen Größe gelangen. In der Physik spricht man in dem Fall, wenn keine inneren Widerstände den Fluss der Energie hemmen, von Supraleitung. Wie physikalische Erkenntnisse aus der Elektrizität auf den menschlichen Lebensstrom übertrag- und anwendbar sind, soll das Thema

im folgenden Kapitel sein.

 
 
 

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